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ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit .  Leben 
 
Warum Hirnforscher am freien Willen zweifeln  
  Im deutschen Feuilleton gärt es. Hirnforscher erklären den freien Willen zur Illusion, Geisteswissenschaftler halten dagegen und werfen diesen wiederum völlig überzogene Erklärungsansprüche vor. Jüngstes Beispiel: Die viel beachtete Kyoto-Preis-Rede des deutschen Philosophen Jürgen Habermas, in der er vehement für die Existenz der Willensfreiheit eintrat.  
Der Disput geht auf Versuche zurück, die bereits vor 25 Jahren vom US-amerikanischen Neurobiologen Benjamin Libet durchgeführt wurden. Diese ergaben - so zumindest die provokante Interpretation -, dass das Ich gewissermaßen nicht Herr im eigenen Hause ist, wenn im Gehirn Entscheidungen getroffen werden.
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Das Buch zur Debatte
Die deutsche Binnendebatte zu diesem Thema wurde in dem von Christian Geyer herausgegebenen Band "Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente" dokumentiert. Das Buch erschien 2004 bei Suhrkamp.
->   Suhrkamp Verlag
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Common sense vs. Neurobiologie

Auf den ersten Blick scheint die Leugnung der Willensfreiheit absurd, widerspricht sie doch unserer alltäglichen Intuition. Jeder Willensakt ist nämlich von dem untrüglichen Gefühl begleitet, dass es so etwas wie eine übergeordnete Instanz in unserem Denken gibt, und zwar das autonome Ich.

Und diese Empfindung scheint beinahe denknotwendig zu sein: "Wir können unseren freien Willen nicht wegdenken", hat diesen Sachverhalt kürzlich der Neurophilosoph John Searle ausgedrückt.
Das Ich als höchste Instanz des Handelns
Konsequent weitergedacht sollte der freie Wille dann die Rolle eines "Höchstgerichts" im Gehirn einnehmen. Er müsste zum einen dafür verantwortlich sein, dass Handlungen in Gang gesetzt werden und er dürfte seinerseits nicht von weiteren Ursachen abhängen - denn dann wäre er ja nicht wirklich frei vom Diktat der materiellen Verursachung.
Benjamin Libets Experimente
Der US-amerikanische Neurobiologe Benjamin Libet hatte in den späten 70er Jahren eine Idee, wie man auf experimentellem Weg überprüfen könnte, ob diese Intuition korrekt ist.

Er stellte Versuchspersonen vor folgende Aufgabe: Sie mussten sich entscheiden, entweder den rechten Finger oder die ganze rechte Hand zu heben und sich gleichzeitig den Zeitpunkt dieser Entscheidung durch Blick auf einen rotierenden Zeiger merken.
Fingerhebeübungen
Während dessen wurden an den Probanden EEG-Aufzeichnungen gemacht, aus denen dann das so genannte Bereitschaftspotenzial herausgefiltert wurde.

Dabei handelt es sich um eine Erregnungswelle in den motorischen bzw. prämotorischen Arealen der Hirnrinde, die immer dann auftritt, wenn Willkürbewegungen (wie etwa das Bewegen eines Fingers) ausgeführt werden.
Das Ich hat immer Verspätung
Die Versuche ergaben, dass das gemessene Potential dem bewussten Entschluss im Schnitt rund eine halbe Sekunde vorausging, mit ihm jedoch niemals zeitlich zusammenfiel oder ihm gar folgte.

Dieser Befund wird von Neurobiologen dahingehend gedeutet, dass der Willensentschluss nicht die Ursache der Bewegung ist, sondern nur eine Art Begleitgefühl der Handlung darstellt. Das Ich ratifiziert also gewissermaßen nur, was längst vorbewusst festgelegt wurde.

Ironie der Geschichte: Benjamin Libet wollte als überzeugter Dualist mit seinen Versuchen eigentlich die Autonomie des menschlichen Willens beweisen - ausgelöst hat er indes eine Debatte mit umgekehrtem Vorzeichen.
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Literatur-Tipp
Einen aktuellen Schwerpunkt zu diesem Thema bietet das Fachjournal "Consciousness and Cognition" (Band 11, Ausgabe vom Juni 2002). Darin erschien u.a. der Aufsatz "The Timing of Conscious States" von David M. Rosenthal, der sich den Libetschen Versuchen, ihren jüngsten Wiederholungen und der daran geäußerten Kritik widmet.
->   Zum Original-Artikel (pdf-File)
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"Eine Täuschung"
"Wir müssen davon ausgehen, dass das Gefühl, dass wir das, was wir jetzt tun, kurz zuvor gewollt haben, ebenso eine Täuschung ist wie die Annahme, dass der Willensakt die Tat ursächlich bedingt", lautet der Schluss, den etwa der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth in seinem Buch "Fühlen, Denken, Handeln" zieht.
->   Das Buch bei Suhrkamp
Einwand: Freiheit entsteht durch Angabe von Gründen
Jürgen Habermas kritisiert an solchen Interpretationen zweierlei: Zum einen seien "Handlungen das Ergebnis von Intentionen und Überlegungen, die Ziele und alternative Mittel abwägen", so der deutsche Philosoph in seiner Rede zur Verleihung des Kyoto-Preises.

Mit anderen Worten, im Libetschen Versuch wurden lediglich Finger oder Hände bewegt - es entfiel jedoch die Angabe von guten Gründen, die eine Entscheidung erst zu einer freien machen.

Das wirft folgende interessante Frage auf: Angenommen, man könnte das Libetsche Versuchsdesign auf wirklich lebensnahe Situationen anwenden - würde dann die Angabe von guten Gründen etwas am zeitlichen Auftreten von Bereitschaftspotenzialen andern? Zukünftige Experimente werden es hoffentlich zeigen.
->   Habermas: Und den freien Willen gibt es doch (19.11.04)
Bewusstsein: Nur ein Epiphänomen?
Zum zweiten kritisiert Habermas, dass man mit dem Frontalangriff auf den freien Willen einen hohen Preis zahle: Man müsse dann nämlich "das bewusste Leben zum Epiphänomen erklären."

Das heißt, das Bewusstsein wäre dieser Auffassung nach einfach nutzloses Beiwerk von neuronalen Prozessen. Habermas nimmt dazu eine Anleihe bei seinem Kollegen John Searle, der den Epiphänomenalismus kürzlich aus Sicht der Evolutionstheorie angegriffen hat.

Es wäre sehr unwahrscheinlich, so Searle, wenn ein so komplexes und "kostspieliges" Phänomen wie das Bewusstsein keine Bedeutung für das Überleben des Organismus hätte.
->   Epiphenomenalism (Stanford Encyclopedia of Philosophy)
Warum Bewusstsein nicht nutzlos ist
Mit solchen Ansichten rennt man bei den meisten Neurobiologen ohnehin offene Türen ein. Gerhard Roth etwa macht sich schon seit Jahren für die Ansicht stark, dass dem Bewusstsein sehr wohl eine biologisch nachweisbare Funktion zukomme.

Er interpretiert das Bewusstsein als Eigensignal des Gehirns, um neue und wichtige Denkinhalte von altbekannten oder weniger relevanten abzugrenzen.
Der Mensch ist autonom, nicht das Ich
Den freien Willen erachtet Roth in Übereinstimmung mit vielen Fachkollegen allerdings tatsächlich als Illusion. Aber die Kränkung für die Menschheit fällt nicht so schlimm aus, wie man befürchten könnte, denn die Verantwortlichkeit für unsere Handlungen bleibt durchaus erhalten.

Nur ist nach Roths Argumentation nicht mehr das empfindende Ich die autonome Instanz, sondern das ganze Gehirn - oder besser: der ganze Mensch.

Robert Czepel, science.ORF.at, 22.11.04
Aktuelles zum Thema Hirnforschung in science.ORF.at:
->   Warum Furcht ansteckend ist (16.11.04)
->   Deutsche Forscher visualisieren "Drähte im Gehirn" (12.11.04)
->   Bewegliche Gehirn-Implantate gegen Lähmungen (11.11.04)
->   Meditation verändert Gehirnströme (10.11.04)
 
 
 
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  mantispa | 24.11, 10:10
die frage (ob fw I oder II "gilt")
ist wahrscheinlich nicht mehr entscheidbar (aporien des geistes)- auch @ EB.- Was Habermas (den ich nicht mag)dazu sagt, gefällt mir recht gut, zumal es ziemlich unverständlich ist.
 
 
  archilochos | 23.11, 09:08
Herakles hatte es noch leicht
Nachdem er sich am Scheidewege für den Weg entschieden hatte, den ihm die "Tugend" gewiesen hatte, war weiteres Nachdenken damals überflüssig.
Schon seine erste Heldentat, die Erwürgung des nemeischen Löwen, würde ihm heutzutage eine Menge Ärger einbringen. Die Ausmistung des Augias-Stalles würde ihn heute bis ans Lebensende mit Prozessen eindecken.
So aus dem Bauch (oder was auch immer) heraus könnte er sich keine Entscheidung mehr erlauben.
Frage: wäre er jetzt auf Seiten der Hirnforscher oder der Geisteswissenschaftler?
 
 
  aasgeier | 24.11, 09:56
vielleicht würde er beide am Genick packen und mit den Köpfen zusammenzuhauen bis der Groschen fällt?
  sensortimecom | 22.11, 20:15
Neurobiologen liegen richtig !
"Dieser Befund wird von Neurobiologen dahingehend gedeutet, dass der Willensentschluss nicht die Ursache der Bewegung ist, sondern nur eine Art Begleitgefühl der Handlung darstellt. Das Ich ratifiziert also gewissermaßen nur, was längst vorbewusst festgelegt wurde..."

Völlig richtig. Der "bewusste" Willensakt stellt ein Epiphänomen dar, das aus "neuronalem Processsing" resultiert (Vergleich bzw. Analyse von synaptisch gespeicherten zeitlichen Mustern).

Das habe ich vor 5 Jahren (1999), also lange VOR den Artikel im Fachjournal "Consciousness and Cognition" (Band 11, Ausgabe vom Juni 2002) auf meiner Page:
www.sensortime.time-de.tml
und dem daraus entnommenen Abschnitt:

http://www.sensortime.com/brain-de.html
("Der Algorithmus der Signalverarbeitung im Gehirn")...

...ausführlich beschrieben (allerdings in Form einer Patentanmeldung, da mir eine Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Studie in einem Journal nicht gestattet wird. Bitte um Verzeihung;-)

Herrn Robert Czepel würde ich die genaue Lektüre der gesamten Pat.-Schrift US6172941 durchaus mal empfehlen;-)

Im Übrigen, Hr. Habermas: Was ist denn so katastrophal an einer solchen Erkenntnis? Man muss ja auch den Umkehrschluss ansetzen, der da lautet:
Wo neuronales processing in Gehirnen stattfindet, da existiert auch Willensakt und Bewusstsein (wenngleich auf unterschiedlichem Niveau je nach Komplexität der Strukturen). Was sagt uns das:
DASS WIR AUCH MIT UNSEREN MITGESCHÖPFEN, vor allem den TIEREN, VERANTWORTUNGSVOLL und in gewisser Weise "HUMAN" UMZUGEHEN HABEN !!

mfg Erich B. www.sensortime.com


 
 
  ris1 | 23.11, 13:25
jep, wenn wir keinen freien willen haben, sind wir eh nichts anderes als tiere mit einem höheren verstand..

und könnte man das etwa weiter deuten, dass man den wert eines "menschen" an der höhe des verstandes messen kann?? (wird ja allgemein nicht so gesehen, was wohl auch sinnvoll ist..)
  dasandere | 23.11, 21:50
lustig...
ich frage mich nur, WARUM du es gelesen hast? UND WARUM stelltest dus ins NEtz?
Und WARUM schriebst du dieses Posting??
  allgeier | 23.11, 21:58
irgendwie lustig, ja ...
  aasgeier | 24.11, 09:52
@Erich : bezügl. "kleinerer" Handlungen stimme ich Dir zu
"Klein" hervorgehoben, weil das Aufstehen (aus dem Bett) als Gewaltakt von Morgenmuffeln wie mir eher als Hauptleistung des Tages empfunden werden.
Vor einiger Zeit habe ich nun gemerkt, dass ein kleines biserl warten Wunder wirkt: die unterbewusste Sperre ist urplötzlich von ganz alleine weg - das Aufstehen ist dann kein Willensakt mehr.

Größere Vorhaben wie z.B. ein Reiseantritt haben aber sehr wenig mit dieser unterbewussten Vorentscheidung zu tun, dazu ist der Komplex aus "für und wider" zu sehr von bewussten Überlegungen abhängig.

Apropos Tiere: WIR können auch von deren Umgang mit uns (oder deren Umelt) lernen.
Von meiner ersten Katze habe ich z.B. gelernt in einer nicht ganz klaren Gefahrensituation den Körper erst nur zu straffen statt vorwärts zu stürmen, wie es laut Unfallforschern menschentypisch sein soll.
Leider hinkte sie mir in Punkto Gefahrenanalyse später doch zu sehr nach und blieb stehen wo laufen angesagt gewesen wäre.
  ris1 | 22.11, 16:06

.., dass man, wenn man etwas dazulernt das ganze physikalisch erklären kann, kann ich mir noch vorstellen (es verändern sich die gewichtungen der einzelnen neuronen im gehirn - am modell gesprochen), und daher auch, dass man alte sachen verlernt zum teil, wenn man neue lernt..
aber, dass es sich mit dem Ich genau so verhält, naja.. Man kann zB prinzipiell auch persönlichkeiten verändern, in dem man einfach daran arbeitet, aber dies dauert viel viel länger als simple gehirn-aufgaben wie zB auswendig-lernen für einen test (schlichte neuronengewichtung im kurzzeitgedächtnis) oder autofahren lernen (kurzzeitgedächtnis und wird dann ins "prozedurengedächtnis" übergehen).. - ist vielleicht darum das Ich (das man sich mal angenommen einbildet) langsamer, weil es einfach weit komplexer ist?

Und, wie verhält sich jetzt eigentlich die beziehung Ich-Persönlichkeit? ist es das selbe?
 
 
  allgeier | 23.11, 21:56
ob "Ich" und "Persönlichkeit" dasselbe sind, darauf antworte ich zwar schnell mit nein ("Ich" bedeutet traditionell "Bewußtsein", während Unbewußtes zur Wahrnehmung von "Persönlichkeit" beiträgt), aber es kommt bei solchen Diskussionen sehr auf den Sprachgebrauch an.
Übrigens, zum Unterschied zwischen Mensch und Tier: Die Frage selbst ist der Unterschied ....
  allgeier | 22.11, 13:26

Der neurophysiologische Befund, das "Ich" habe immer Verspätung, ist nur eines von vielen Mosaiksteinchen. Man kann sowieso das "Ich" als eine Art Illusion auffassen, dieser Gedanke ist nicht neu. Außerdem hat es insgesamt keinen Sinn, sich einen Menschen jeweils als eine Einzelerscheinung vorzustellen (auch ein "Kaspar Hauser" war das nicht), Mensch ist man erst in der Interaktion. Ob eigenverantwortlich? :-) Wenn´s gut geht, ja, natürlich; wenn´s schief geht war es `was anderes ...
 
 
  allgeier | 22.11, 13:34
PS.:
das Wort "Illusion" ist ungünstig konnotiert. "Ich" ist ein Modell, eine im Alltag bewährte Einstellung und Vorgehensweise.
 
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